Beziehungen innerhalb der tschechoslowakischen Typografenszene

Essays by Johanna Biľak
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German

Bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts übte die Frakturschrift einen grossen Einfluss auf den tschechischen Buchdruck aus. Mit Ausnahme der tschechischen Version einer Frakturschrift, genannt „tschechische Bastarda“, hatte der tschechische Buchdruck keinen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der lateinischen Schrift geleistet. Dies ist hauptsächlich der reformatorischen Bewegung des Jan Hus zuzuschreiben, welche die Verbreitung von Humanismus und Renaissance aus Italien in den tschechischen Gebieten verhinderte. Erschwerend wirkten sich auch technische und finanzielle Widrigkeiten aus, welche die Buchdrucker zwangen, auf bereits existierende österreichische und deutsche Schriften zurückzugreifen. Im neunzehnten Jahrhundert wurde die lateinische Druckschrift zu einem Symbol der nationalen tschechischen Erweckungsbewegung, und die darauffolgende Entwicklung ermöglichte einen kontinuierlichen Übergang von der Frakturschrift zur Antiqua.


Die Anfänge der modernen Phase der tschechischen Schrift lassen sich auf das Jahr 1918 datieren, als sich die tschechische und die slowakische Nation zu einem Land vereinten. Der wachsende Nationalismus der zwanziger Jahre verlangte nach einem „nationalen Charakter“ in allen kreativen Disziplinen. Dabei ist interessant festzustellen, dass die Suche nach einer nationalen Identität ebenso wichtig war wie heute.

Der Wandel der Bedingungen und ein wachsendes Nationalbewusstsein führten zu einer realen Nachfrage nach neuen Schriftarten. Tschechische Typografenkreise begriffen die Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes in Paris 1925 als Herausforderung und beauftragten Vojtěch Preissig (1873-1944), einen Grafiker und Buchkünstler, eine tschechische Originalschriftart zu gestalten. Seine Preissig Roman war insofern aussergewöhnlich, als sie die tschechischen Akzente in den lateinischen Zeichensatz integrierte.


Slavoboj Tusar (1883-1950) war ein weiterer tschechischer Typograf, der eine Schriftart für die Pariser Ausstellung schuf. Seine Tusar Roman war der erste tschechische Schriftsatz, den Monotype für ihre Setzmaschinen übernahmen. Zur Verbesserung der Lesbarkeit fügte er 1936 den kursiven Kleinbuchstaben einige Alternativen hinzu.


Mit der Anschaffung einer modernen Graviermaschine durch die Staatsdruckerei Prag im Jahre 1925 verbesserte sich die technische Seite der Typenherstellung. Karel Dyrynk (1876-1949), Direktor der Druckerei und ein vehementer Fürsprecher des tschechischen typografischen Schaffens machte sich die verbesserte Technik zunutze und entwickelte fünf neue Schriftarten, alle äusserst dekorativ, die sich an bekannte historische Vorbilder anlehnten, und gleichzeitig einen eigenen, besonderen Charme ausstrahlten, wie zum Beispiel Malostranská Antikva (1927), Dyrynk’s Latein (1928) oder Gregr’s Roman (1930).


Im Gegensatz zu seinen oben erwähnten Vorgängern widmete Oldřich Menhart (1897-1962) seine ganze Zeit und Energie der Theorie und Gestaltung von Schriften, wobei er sich auf internationalem Niveau bewegte. Paradoxerweise wurde sein erster Schriftsatz, Menhart Antikva (1932), trotz seiner Bemühungen um die moderne tschechische Schrift bei der Bauerschen Giesserei in Frankfurt hergestellt. Ihr internationaler Erfolg wirft Fragen auf: War es der ausgeprägte tschechische Stil oder waren es die allgemein anerkannten kalligrafischen Grundsätze, welche diese Schriftart so attraktiv machten?

Seine zweite Schriftart, ebenfalls gekonnt auf kalligrafische Prinzipien abgestützt, war Menhart Roman (1933-1934), durch Monotype 1934-1936 veröffentlicht. In seiner Broschüre zur neuen Schrift legte Menhart dar, was seiner Meinung nach die Anforderungen an eine moderne Druckschrift waren: „Ein neues Zeitalter verlangt nach einer neuen Schriftform; es ist sinnlos, historische Modelle neu zu dekorieren; es gibt einen Überfluss an Kopien historischer für den Buchdruck bestimmter Schriften, die ihre Mission, sich von der im späten 19. Jahrhundert modischen Schrift abzuheben, erfüllt haben.“ Menharts wichtigster Beitrag war, dass er einen realistischen Weg in die Zukunft zu beschreiben vermochte: in einem vernünftigen Masse die Tradition fortsetzen, übernehmen, was nicht dem Wandel ausgesetzt ist und auf solider Grundlage dem neuen, modernen Geist folgen.


Menhart Roman sollte in ihrer Ausdruckskraft eine ausgeprägt tschechische Schrift sein: Menhart zufolge war das Alphabet eine visuelle Manifestation des gesprochenen Wortes, mit einem direkten Bezug zu Inhalt und Form der Sprache. Wie Preissig begriff Menhart, dass es bei Schriften für die tschechische und slowakische Sprache galt, der Gestaltung der diakritischen Zeichen besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Er suchte nach passenden Arten der Buchstabenformen, die einem nicht von Renaissance- oder neoklassizistischen Formen, aber auch nicht durch mathematische/rationale Konstruktionen aufgezwungen wurden. Auf der Suche nach Quellen aus der Vor-Antiqua-Zeit hatte er sich von den klaren Linien des griechischen Alphabets inspirieren lassen und gestaltete seine lateinischen Buchstaben unter Zuhilfenahme seiner profunden kalligrafischen Erfahrung.

Menharts langjähriges Studium der Typen und Schriften hatte seinen Blick für die emotionale Wirkung, die die Buchstabenformen auf den Leser ausübten, geschärft. In seinem Buch Tvorba typografického písma (1957) (Ein Leitfaden zur Gestaltung von Schriftarten) schrieb er: „…Schriftarten haben wie Menschen ein Gesicht, ihre Stimmen können freundlich oder grob, kalt, verärgert oder fordernd klingen.” Im Weiteren sagte er, die visuelle Form einer Schriftart vermöge beim Leser eine ganze Palette von Assoziationen auszulösen, bevor dieser überhaupt den Inhalt des Textes kenne.

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Nur seine dritte Schriftart, Manuscript (1946), wurde von einer örtlichen Schriftgiesserei, Slévarna písem in Prag, veröffentlicht. Ihr zugrunde lag die Handschrift des Urhebers, die er den Erfordernissen der Drucktechnik angepasst hatte. Figural (1940-1948) gilt allgemein als seine reifste Kreation, sie erscheint strenger und kantiger, weit weniger an die Kalligrafie angelehnt als seine früheren Schriften. Oldřich Menhart war als Designer und Autor seiner Zeit voraus. Für die heutigen Designer ist sein Vermächtnis von grundlegender Bedeutung und eine stete Quelle der Inspiration; und der Bezug zu anderen tschechischen Schriftengestaltern ist unübersehbar. Mit seinen Schriftarten befreite er sich von den übermächtigen historischen Assoziationen, die die meisten der in der Tschechoslowakei geschaffenen Schriftarten auszeichneten.


Eine wichtige Figur der Geschichte der tschechischen Schriftarten ist František Muzika (1900-1974), ein multidisziplinärer Künstler, der als Maler, Grafik-Künstler, Bühnenbildner und Lehrer gearbeitet hatte. 1921 trat er der Avantgarde-Bewegung Devětsil (Neunkräfte) bei, wo er lebenslange Freundschaften mit anderen Mitgliedern der Gruppe schloss: mit dem Dichter Jaroslav Seifert, dem 1984 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, und mit Karel Teige, modernistischer Designer, Publizist und Kunstkritiker. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt er eine Professur an der Akademie für Kunst, Architektur und Design (AAAD) in Prag (1945-1970). Über sein langjähriges Interesse an den Typen verfasste er das monumentale zweibändige Werk Krásne písmo ve vývoji latinky I, II 1958, 1963, eine beispiellose Darstellung der Entwicklung der lateinischen Schrift, die sich vielleicht nur noch mit D.B. Updike’s Printing Types vergleichen lässt. Krásne písmo ve vývoji latinky I, II ist noch immer ein unerlässliches und einzigartiges Nachschlagewerk für Studierende der Schriftgeschichte von der Erfindung des lateinischen Alphabets bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieses wertvolle und üppig illustrierte Werk wurde 1965 ebenfalls auf Deutsch veröffentlicht (Die schöne Schrift in der Entwicklung des lateinischen Alphabets . Hanau am Main: Verlag Werner Dausien).


Oldřich Hlavsa (1909-1995), gelernter Schriftsetzer, entwickelte sein künstlerisches Feingefühl durch seine langjährige Praxis im Druckgewerbe und durch sein Studium der Schriftgeschichte und Avantgarde-Trends. Einerseits bewunderte er Teiges konstruktivistischen Ansatz, respektierte aber auch, wie Sutnar, Menhart und Muzika Tradition in modernes Design übertrugen. In Hlavsas Werk begreift sich die Typografie als visuelle Interpretation des Inhalts. Hlavsa war ein autodidaktischer Designer, und erhielt als Redakteur des Magazins Plamen (Flamme) erstmals Gelegenheit mit illustrativen typografischen Kompositionen zu experimentieren. Obwohl Hlavsa nie offiziell lehrte, gab er, während seines ganzen Schaffens durch seinen Freund Ladislav Sutnar ermutigt, sein Wissen im Typografiehandbuch Typografická písma latinková (1957) weiter, das durch Tudor Publishing, New York, als A Book of Type and Design (1960) auch auf Englisch veröffentlicht wurde. Während der Zeit der Normalisierung der Tschechoslowakei in den siebziger und achtziger Jahren gab er seine Erkenntnisse und polygrafischen Erfahrungen in einem dreibändigen Buch, Typographia 1 (1976), Typographia 2 (1981), Typographia 3 (1986), weiter, das zu einem wichtigen Standardwerk der typografischen und der Buchkultur der Tschechei wurde.


Josef Týfa (1913-) war ein guter Freund Oldřich Hlavsas. Wie Hlavsa hatte er sich immer für eine ernsthafte und saubere Typografie eingesetzt und den Standpunkt vertreten, eine Schriftart müsse immer einen direkten Bezug zum Inhalt eines Buches haben. Ursprünglich in der Werbung tätig, konzentrierte er sich in den Fünfzigern ausschliesslich auf den Buchdruck. Er war bei verschiedenen Verlagshäusern der Tschechoslowakei tätig und war für die visuelle Identität grosser Editionen wie Situace, Ypsilon, Most oder Archiv verantwortlich. Als ein unbeugsamer Verfechter des Supremats des Inhalts las er jeweils erst das ganze Buch, bevor er sich daran machte, es zu gestalten. Týfas Streben nach dem integralen Design liess ihn an mehreren Druckschriften-Wettbewerben teilnehmen. 1952 debütierte er mit der Übergangs-Schriftart Kolektiv für Schreibmaschinen, aber die herausragendste Schrift, die er kreierte, war die für literarische Werke gedachte Týfa Roman/Italic (1960), die ebenfalls von Berthold für Fotokompositionen herausgegeben wurde. Diese Schriftart wurde später in Zusammenarbeit mit František Štorm digitalisiert und von ITC 1998 als ITC Týfa veröffentlicht. Eine überarbeitete Version derselben Schriftart wird von der Štorm Type Foundry vertrieben.


Erst unlängst überarbeitete Týfa zum zweiten Mal Juvenis, eine ältere Schrift aus den sechziger Jahren, die für Kinderbücher entwickelt wurde. Diese kontrastarme Schrift verfügt über asymmetrische Serifen, die den Text, in dem kein Buchstabe dem andern gleicht, rhythmisieren, was die Lesbarkeit für Lesenovizen verbessert. In Zusammenarbeit mit Štorm gestaltete er im Jahr 2002 neue Kursivschriften, die bei der Štorm Type Foundry veröffentlicht wurden. Der Vollständigkeit halber seien hier auch die Schriften Academia (1968) und Amos (1982) erwähnt.


Jan Solpera (1939-), in der nächsten Generation, war ein Schüler František Muzikas. Neben seinen Arbeiten als Grafikdesigner war er auch als Schriftsteller und Designkritiker für verschiedene auf Grafikdesign spezialisierte Zeitschriften tätig. Solperas Studium der Entwicklung der lateinischen Schriftarten führte zu einem neuen Klassifikationssystem für Druckschriften. Er unterteilte die lateinischen Schriftarten in elf Gruppen, acht Gruppen von typografischen Textschriftarten, zwei Gruppen von kalligrafischen und handschriftlichen Schriftarten und eine gesonderte Gruppe Frakturschrift. Dieses fundierte Wissen gab er an seine Studenten weiter, als er als Professor an der AAAD in Prag tätig war (1973-2003). Das Vermächtnis Muzikas, was die Tradition anbetrifft, manifestiert sich auch in Solperas historisierenden Schriftdesigns. Gegen Ende der siebziger Jahre begann er an einem Satz Grossbuchstaben für die Beschilderung des AAAD zu arbeiten. Der ursprünglich vorgeschlagene Name Insignia deutet auf Form und Zweck des Schriftsatzes hin. 1983 wurde diese serifenlose Linear-Antiqua der Öffentlichkeit vorgestellt, als Bohuslav Blažej sie im Magazin Typografia veröffentlichte. Zehn Jahre später wählte Oldřich Kulhánek die Schriftart für die aktuell im Umlauf befindlichen tschechischen Banknoten. In der Folge erhielt Solpera den Auftrag, den Font für den Auftritt der neuen Tschechischen Nationalbank zu adaptieren. Schliesslich wurde die Schrift nur für das Logo verwendet, da sie dem Auftraggeber zu verschnörkelt erschien. 1999 fügte Solpera noch die Kleinbuchstaben hinzu und überarbeitete die Grossbuchstaben. Dann liess František Štorm den Font digitalisieren, und 2000 veröffentlichte Štorm Type Foundry die Familie mit 16 Schriftschnitten unter dem Namen Solpera.

Trotz seiner Emeritierung ist Solpera weiterhin als Schriftdesigner tätig. 2005 veröffentlichte er in Zusammenarbeit mit Štorm Areplos, seine Schriftart aus den sechziger Jahren. In diesem Design hinterfragte er die grundsätzliche Morphologie des Alphabets und schuf eine Type „oben mit, unten ohne“ Serifen. Areplos spielt auf Erkenntnisse der Forschung der lateinischen Druckschrift an, gemäss welcher man hauptsächlich die obere Hälfte der Buchstaben liest und die Lesbarkeit durch Serifen in diesem Bereich verbessert wird. Die Herausforderung für den Designer lag darin, die einzelnen Zeichen optisch auszubalancieren, da die obere Hälfte jedes Buchstabens ein visuelles Gegengewicht in der unteren, einfacheren Hälfte benötigte. Dies hiess, er musste die korrekte Form und den Grad der Verdickung des unteren Teils der Zeichen herausarbeiten.


In der kleinen tschechischen Schriftdesignerszene scheint alles miteinander verbandelt zu sein. František Štorm (1966-) schloss 1991 an der AAAD ab, wo er unter Jan Solpera Buch- und Schriftdesign studiert hatte, und arbeitete von 1991 bis 1995 am selben Institut als dessen Assistent. 1993 gründete er die Štorm Type Foundry und begann dem Werk der grossen tschechischen Typographen wie Slavoboj Tusar, Vojtěch Preissig, Jan Solpera und Josef Týfa neues Leben einzuhauchen. Heute ist er Leiter des Ateliers für Schrift und Typographie an der AAAD und beeinflusst die nächste Generation von Designern. Für Štorm ist „die Geschichte ein Schlüssel zur Gegenwart und die Basis für die Zukunft.“ Er ist sehr gut über den Bestand an seltenen Büchern in der Nationalbibliothek in Prag und auf Schloss Prag informiert und besucht regelmässig Klosterbibliotheken im ganzen Land. Die erste Schriftart, die er noch unter seinem Tutor Solpera gestaltet hatte, war Mramor (1988-1994), die an handschriftliche Beschriftungstypen angelehnt war. 2005 veröffentlichte er den überarbeiteten Schriftsatz unter dem Namen Amor.



Eingehend studierte Barock-Vorbilder, Štorms Favoriten, treten in Schriftarten wie Regent (1994), Serapion (1996) und Biblon (2000) zu Tage. Biblon wird mit einer vereinfachten Kursivvariante von der Typeface Corporation als Biblon ITC vertrieben. Serapion diente als Ausgangspunkt für Sebastian (2003), eine Schrift, die sich als reflexive Parodie auf Schriftdesigntraditionen zeigt und gleichzeitig auf beide formalen Quellen verweist: die modernen Groteskschriften und die Post-Renaissance-Serifschriften.
Als Reaktion auf den Mangel an regionalen Fonts veröffentlichte Štorms Schriftgiesserei in den dreizehn Jahren ihres Bestehens 55 grosse Schriftfamilien. Diese noch nie dagewesene Sammlung von Stilen widerspiegelt die Besonderheiten der tschechischen Sprache, wie sie auch Štorms persönliche Liebesaffäre mit der Umgangssprache und der offiziellen typografischen Entwicklung zeigt.


Obwohl die gebürtige Slowakin Zuzana Ličko (1961-) nicht in direktem Kontakt zur tschechoslowakischen Szene stand, beeinflusste sie in den Neunzigern eine ganze Generation von Schriftdesignern, die ihr Werk als exemplarisch für das zeitgenössische digitale Schriftdesign betrachteten. 1985 gestaltete sie im Alter von 24 Jahren ihre ersten Schriftarten für Macintosh-Computer und den Matrixdrucker. Ihr Ansatz war durch die technischen Einschränkungen geprägt und sollte das traditionelle Bild vom Herstellen von Schriften ändern. Sie begann mit höchst geometrischen, auf dem Pixelraster des Computerbildschirms basierenden Schriftarten. Obwohl Emperor (1985), Universal (1985), Oakland (1985), und Emigre (1985) grobkörnige, durch eine spezifische Absicht gelenkte Bitmap-Formen sind, waren sie augenblicklich erkennbar und stellten das Potential der Bitmap-Schrift unter Beweis.

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Matrix (1986), Modula (1985), Citizen (1986) und Base (1995) gehören unter anderen zu einer späteren Serie von Fonts von Ličko, die auf die frühen Bitmap-Schriften folgten und von den wachsenden Fortschritten der Technik und der Einführung von PostScript profitierten. Matrix ist so gestaltet, dass sie für den Satz und digitales Speichern möglichst wenig Platz beansprucht. Die Definitionen der Letterforms beschränken sich auf das Wesentliche: Die Serifen-Struktur ist auf diagonale Elemente reduziert und verwendet die 45°-Diagonale, was gerade bei digitalen Druckern ein besonders ebenmässiges Schriftbild ergibt. Modula ist ein geometrischer Überschriften-Font, der auf der Emperor-Bitmap-Schrift basiert. Die Absicht, sie für den „smoothen“ Laserdruck zu adaptieren, führte zu vereinfachten diagonalen und runden Elementen. Citizen ist ein Experiment mit der „Smooth-printing“-Option. Die Eigenschaften von „Smooth-printing“ werden mit gradlinigen Segmenten, die den Anschein von runden Formen erwecken, erreicht. Base-9 und Base-12 sind geometrische Font-Familien mit gegenseitig kompatiblen Bildschirm und Drucker-Fonts, wobei die Bildschirm-Fonts das Aussehen der Drucker-Fonts diktieren. Ein Jahrzehnt später machte Zuzana Ličko Gebrauch von den vielen Lektionen, die sie aus ihren früheren Bitmap-Experimenten gelernt hatte.



In der jüngeren Vergangenheit wandte sich Emigre, angeregt durch die Umstellung des Magazins Emigre (eingestellt 2005) auf textlastigere Ausgaben, den eher traditionellen Textschriften zu. Mrs Eaves (1996) ist eine Wiederbelebung der Baskerville. Das sanfte Schriftbild des Fonts erinnert an das Hochdruckverfahren. Dank der zahlreichen Ligaturen ergibt sich die Möglichkeit den Text mit raffinierten Dekorationen anzureichern. Filosofia (1996) ist eine überarbeitete Bodoni. Abgemildert durch runde Serifenenden und reduzierte Kontraste, erinnert auch diese Schrift an das Hochdruckverfahren. Solex (2000) ist eine serifenlose Schrift, die die Morphologie der branchenüblichen Sans-Serifen erforscht. Sie strebt danach, zur Familie der Groteskschriften zu gehören und sich gleichzeitig von populären Schriften wie Meta Sans oder Officina Sans abzuheben.

1993 teilten sich die Tschechische Republik und die Slowakei friedlich in zwei Staaten. Traditionellerweise haben viele Slowaken in Prag, der kulturellen Hauptstadt der Tschechoslowakei, studiert, um eine spezialisiertere Ausbildung, zum Beispiel in den grafischen Künsten und in Typografie, zu erhalten.

Von 1986 bis 1992 war der slowakische Designer Andrej Krátky (1966-) Student bei Jan Solpera an der AAAD in Prag, aber seine frühen Experimente waren auch durch seinen Vater, den Typografen Ľubomír Krátky beeinflusst. 1988 begann er an Adriq zu arbeiten, die vermutlich erste Outline-Font-Familie in der Tschechoslowakei, unmittelbar bevor die PostScript-Technik verfügbar wurde. Adriq wurde in METAFONT digitalisiert, einer durch Donald Knuth als Teil seines TeX-Satzsystems entwickelten Programmiersprache. Der arbeitsintensive Herstellungsprozess war wahrscheinlich der Grund, dass die Schriftart unvollendet blieb. Durch Krátkys analytischen Ansatz versuchte Adriq zwei sich widersprechende Prinzipien in einem zu vereinen: ein dynamisches Serifen-Design, das mehrere Konstruktionselemente aus der statischen Serifen-Morphologie übernehmen würde. Der Versuch ergab eine lesbare kalligrafische Schrift mit konstruierten Serifen, was sie moderner und eleganter machte – und sie von den traditionellen Renaissance-Vorbildern abheben liess. Der Autor hatte erkannt, dass es nicht der Neigungswinkel ist, welcher kursive Typen einzigartig macht, sondern ihr informeller, handschriftlicher Aufbau. Krátkys Innovation war das Zusammenbringen zweier komplementärer Schriftarten in der Antiqua-Familie: die Schreib- und die Kursivschrift. In Zusammenarbeit mit Peter Biľak wird Adriq gegenwärtig vollendet und in eine grössere Schriftartenfamilie integriert, die 2007 von Typotheque veröffentlicht wird.


Zu Beginn der neunziger Jahre zog Krátky zurück nach Bratislava, wo er an der Academy of Fine Arts & Design (AFAD) mehrere Grafikdesignstudenten dazu brachte, ihre eigenen Schriftarten zu kreieren.

Seine zweite Font-Familie, Bradlo (1994), wurde exklusiv für eine der grössten Banken der Slowakei, mit den Vorgaben Lesbarkeit, Originalität, zeitgemässes Erscheinungsbild und Kompatibilität mit den aktuellen Technologien gestaltet. Auffälligstes Merkmal der Bradlo Slab ist der einseitige Serif, der die Lesbarkeit bei kleinen Zeichen verbessert. Bradlo Slab und Bradlo Sans haben eine ausgeprägte x-Höhe, was ihnen einen kompakten Satz und ein zeitgemässes Erscheinungsbild verleiht. Die Zeichenbreite und die kalligrafischen Akzente sind in den dynamischen Prinzipien der humanistischen Schriftarten verwurzelt. Bradlo nutzt technische Details wie Ink-traps nicht nur um das Zulaufen der Tinte bzw. Druckfarbe bei kleinen Grössen zu verhindern, sondern um auch bei grösseren Grössen eine formale Textur zu erreichen. Obwohl Bradlo darauf abgestimmt wurde, die Anforderungen einer Bank, insbesondere für die Verwendung in Tabellen, zu erfüllen, wurde die Font-Familie von der designierten Institution nie verwendet. Sie wurde stattdessen 1995 von FontShop veröffentlicht.


Peter Biľak (1973-) erfuhr von Schriftdesign zum ersten Mal aus Menharts Büchern. Als Teenager hatte er Tvorba typografického písma (Ein Leitfaden zur Gestaltung von Schriftarten) gelesen, das er ausserordentlich inspirierend fand, und das ihm die ersten praktischen Informationen über das Schriftdesign vermittelte. Zu der Zeit waren Menharts Bücher, die vielen Studenten als Inspiration dienten das Einzige, was sich in der Tschechoslowakei zu dem Thema finden liess. Krátky richtete das erste Apple-Computer-Labor an der Akademie ein, das den Studenten Einblick in die neuen Möglichkeiten erlaubte. Hier begann Biľak seine erste Schrift, Affiatus (1991), zu entwerfen, die er allerdings nie veröffentlichte. Zitat Biľak: „Zum Glück sind alle Unterlagen verloren gegangen.“ Die Erfahrung war jedoch nicht umsonst, denn Menharts Einfluss ist in Biľaks erstem veröffentlichten Textfont, Eureka (1995) deutlich erkennbar: die robuste Konstruktion und die Art, in der der Designer die Proportionen der Eureka anpasst, um sich adäquaten Raum für die Akzente zu verschaffen. Ähnlich wie Menhart erkannte auch Biľak, dass Sprachen mit vielen diakritischen Zeichen wie Tschechisch oder Slowakisch nach anderen Proportionen verlangen, in erster Linie eine geringere x-Höhe, um Platz für die diakritischen Zeichen zu schaffen. Biľak schuf Eureka für den Satz seiner zweisprachigen (slowakisch/englisch) Dissertation, Transparency (1997). Eureka ist eine Schrift, die sich besonders gut für zentraleuropäische Sprachen eignet, und war auch eine der ersten FontShop-Schriftarten, die dieses Sprachgebiet abdeckte. Seit 1995 arbeitet und lebt Biľak hauptsächlich ausserhalb der Slowakei. Dank seines anhaltenden Interesses an der Designkritik und am Publizieren liess er den Kontakt mit der Szene in der Slowakei und der tschechischen Republik nie abreissen und publizierte in dortigen Magazinen wie Deleatur, Designum oder Typo, aber auch in ausländischen Fachzeitschriften wie Emigre oder Print. Im Jahre 2000 gründete Biľak zusammen mit Stuart Bailey das Magazin Dot Dot Dot, eine halbjährlich erscheinende Zeitschrift, die sich den Themen Design, Kunst, Musik, Film, und Sprache widmet.


Auch der zweiten Textschrift Biľaks, Fedra (2001), sieht man den Einfluss Menharts an, und zwar hauptsächlich in der Art und Weise, in der der Autor historische Einflüsse mit den heutigen Anforderungen in Einklang bringt. Fedra basiert nicht auf historischen Vorbildern, sondern bildet eine Synthese aus verschiedenen Zeichentechniken. Sie kombiniert die schnelle Bewegung der Handschrift mit dem für beste Druckergebnisse auf schwach auflösenden Geräten notwendigen geometrischen Ansatz. Für Biľaks Werk — wie für viele Designer in der ehemaligen Tschechoslowakei — dient nicht nur die Vergangenheit sondern auch die Gegenwart als Inspirationsquelle. Fedra Sans wurde 2001 veröffentlicht, gefolgt von Fedra Serif im Jahr 2003. Beide wurden durch Typotheque, die Schriftgiesserei, die Biľak 1999 ins Leben rief, veröffentlicht.

Veronika Burian (1973-), geboren in Prag, verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens im Ausland. Sie begann ihr erstes Fontdesignprojekt 2003 im Rahmen des MA-Type-Design-Programms an der University of Reading. Die wichtigsten Einflüsse für ihre neue Schriftfamilie Maiola (2004) sind die Werke der tschechischen Typendesigner Oldřich Menhart und Vojtěch Preissig. Obwohl sie sich stark an die historischen Modelle anlehnt, indem sie Old-Style-Merkmale und kalligrafische Einflüsse implementiert, hatte sie keineswegs vor, auf den Pfaden dieser beiden Designer zu wandeln, sondern ihre persönliche Interpretation zu definieren. Maiola handhabt ihre Eigenheiten mit Zurückhaltung und vermittelt die Konzepte von Unregelmässigkeit und Kantigkeit eher diskret, wodurch eine lebhafte, geistreiche Atmosphäre entsteht. Die Kursivversion zeigt einen expressiven und unabhängigen Charakter und kommuniziert durch ihr klares und schneidendes Schriftbild die Bewegungen des Schreibstiftes sehr deutlich. Zusätzlich zum Standard-Font enthält die Maiola ausserdem eine zentraleuropäische, eine kyrillische und eine griechische Version und ist seit 2005 bei FontShop erhältlich. 2006 gründete Veronika Burian zusammen mit José Scaglione das Font-Label Type-together.


Tomáš Brousil (1975-), Student bei František Štorm an der AAAD, wurde in der Slowakei geboren, verbrachte dann aber die meiste Zeit seines Lebens in Prag. Seit 2003 entwickelt er digitale Fonts für seine eigene SuitcaseType Foundry. Bislang hat er sich sein Wissen aus Menharts Typografiebüchern, in František Štorms Unterricht und vor allem in seiner eigenen Praxis erworben. Im Gegensatz zu seinem Mentor nimmt er bevorzugt tschechische Schriften der fünfziger bis neunziger Jahre wieder neu auf oder sucht nach eigenen formalen Lösungen, um dem Grafikdesign-Publikum gefällige Schriftarten zu präsentieren. 2005 erhielt er das erste Linotype-Stipendium für einen Studienplatz im MA-Typeface-Design-Programm an der Universität Reading. Zu seinen neuesten Schriftarten gehören RePublic (2003) and Dederon (2003).


RePublic ist eine Neubearbeitung von Public, einer Textschrift aus den Fünfzigern, die bei Druckern in der früheren Tschechoslowakei weit verbreitet war und mit der grössten kommunistischen Zeitung, Rudé Právo, assoziiert wird. Ihre Geschichte provoziert kontroverse Reaktionen bei jenen, die das Regime miterlebt haben, während die jüngeren Generationen weniger voreingenommen sind. Public wurde von Stanislav Maršo gestaltet und gewann 1955 einen Wettbewerb, was dazu führte, dass sie bei Grafotechna veröffentlicht wurde. Die ursprüngliche Schrift verfügte über Standard-, Kursiv-, Fett- und Fett/Kondensiert-Varianten und wurde auch deshalb geschätzt, weil sie auch bei qualitativ relativ schlechtem Papier eine gute Lesbarkeit gewährleistete. Die neue Familie ist seither auf sechzehn Varianten und vier Gewichte angewachsen. Das neue Design verfügt über ein systematischeres Aussehen und ist vielfältiger verwendbar. RePublic geht ohne Vorurteile an die ursprüngliche Schrift heran und macht ihre Qualitäten in einem zeitgenössischen Kontext deutlich.


Dieser Artikel basiert zum Teil auf meiner Forschung für die Ausstellung über das tschechische und slowakische Schriftdesign mit Schwerpunkt auf der Entwicklung der Typografie in den letzten zwanzig Jahren, die ich zusammen mit Alan Záruba 2004-2006 kuratierte. Die Ausstellung mit dem Titel Experiment And Typography wurde erstmals 2004 an der International Biennale of Graphic Design in Brno gezeigt und zog später weiter nach Prag, Den Haag, Bratislava, Cieszyn, Ljubljana, Warschau und Budapest.

Ich kam zu der Erkenntnis, dass das Erbe der tschechoslowakischen Typografie zwar vom Umfang her bescheiden, gleichzeitig aber auch sehr faszinierend war. Bescheiden, da den Ländern teilweise bis 1918 eine unabhängige Entwicklung verwehrt geblieben war. Und faszinierend, da sie trotz ihrer Isolation und ihrer vielfältigen Probleme starke Individuen hervorbrachten, die ihr Gewerbe vorantrieben und sich auf internationaler Ebene bemerkbar machten.

Hinweis für den Leser:
Dieser Text konzentriert sich auf die tschechische und slowakische Schriftgestaltung, wobei dieser sich nicht auf wesentliche internationale Geschehen und Einflüsse bezieht, z.B des frühen 20. Jahrhunderts der Englischen Bewegung, welche zweifellos die tschechische Schriftszene prägte.